Spazieren durch die Stadt, ohne Ziel und Zweck, fasziniert ihre Bewohner:innen, seitdem es Städte gibt. Lässt man Augen, Beinen und Gedanken freien Lauf, kommt man der Stadt vielleicht näher, ihren Widersprüchen und ihrer Beziehung zum Menschen. Was einst mit Baudelaire und Benjamin begann, wird auch heute noch am Leben gehalten.
Der Flaneur ist eine fast vergessene Figur. Zum Ende des 19. Jahrhunderts tauchte er auf, der Müßiggänger, der die Straßen der Stadt durchstreift und sich in ihnen verliert. Die Stadt, das war alles neu. In ihr konnte man sich so wunderschön treiben lassen, während drumherum alles hetzt, besorgt, kauft, liefert. Der Flaneur schaut und assoziiert, lässt den Füßen und Gedanken ihren Lauf, Eindrücke von Menschen, Architektur und Atmosphären vermischen sich. Die Beobachtungen, die Widersprüche im Stadtbild selbst, die er auf seinen Streifzügen entdeckt, führen zu einer Auseinandersetzung mit der Wirkung des Ortes auf die Psyche.
Nur logisch ist es, dass die Situationisten im Frankreich der 1950erJahre ähnliche Methoden nutzten, um die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Städtebau und Psyche zur Wissenschaft zu machen. Guy Debord zeichnete nach seinen Spaziergängen durch die französische Hauptstadt den »Guide psychogéographique de Paris«, eine Art Karte, die atmosphärische Einheiten der Stadt darstellt, verbunden nur durch Pfeile. Sie macht einen Eindruck, als würde man immer wieder in die UBahn steigen, um einen anderen Stadtteil zu erkunden, unwissend über die Verbindung zwischen den Vierteln.
Als die SBahn am Tag des Shootings nicht mehr fuhr, überschritten wir schon diese Grenze. Wir nahmen ein Taxi, Richtung Osten, und sahen, wie die Plattenbauten links und rechts an uns vorbei flogen, diese Betonmonster, umringt von Parkanlagen. Wir kamen an, die zuvor spezifisch ausgewählte Plattenbausiedlung vor uns, und ließen uns treiben. Alles hier entstand Ende der 1970erJahre, lange, nachdem ordentlich flaniert wurde. Wo zu Zeiten der DDR ein ganzer Bezirk zur Unterbringung von Arbeiter:innen entworfen wurde, leben heute vorrangig Familien und Rentner:innen, die gleichzeitig die Ruhe und den Großstadtflair genießen. Hier verbringen wir nun einige Stunden und versuchen, diesen Ort zu verstehen.
»Man kennt eine Gegend erst, wenn man sie in möglichst vielen Dimensionen erfahren hat«, schrieb Walter Benjamin in seinem Tagebuch. Sich die Zeit zu nehmen, einen Ort wirklich zu erkunden, widerspricht im Kern dem Sinn der Stadt, entstand sie doch als Sammelpunkt für Handel und Arbeit, immer mit klarem Zweck vor Augen. Doch der Widerstand gegen die feste Struktur ist wohl so alt wie sie selbst. Entzog sich der Flaneur ganz bewusst dem Treiben, erforschten die Situationisten die Machtmechanismen, die sich im Stadtbild spiegeln.
Und heute? Wir laufen durch dieses Berliner Viertel und sinnieren über das Leben an diesem Ort. Wie er auf den Nutzen der Menschen ausgerichtet ist, oder eben nicht. Wir klettern auf Mauern, Stromkästen, Altkleidercontainer und finden neuen Zugang zu unserer Umgebung. Wir sind nicht die einzigen. Skater:innen, Sprayer:innen, Breakdancer:innen, Punks, all das sind Figuren, die ebenso zur Masse gehören, wie sie den Zweck der Stadt umdeuten. Urbanität bedeutet immer auch die Auseinandersetzung mit der Stadtlandschaft. Ob es anerkannte Tänzer:innen wie Oona Doherty sind, die die Stadterfahrung in ihre Choreografie mit einbezieht oder die Pokémon GoSpieler:innen, die den Geschäftigen im Weg stehen, die Stadterkundung ohne festes Ziel lohnt sich auch heute noch.
Die Models tragen unseren neuen Retro-Sneaker Alder sowie die Trekking-Sandale Peach
Text und Foto von Till Wilhelm